Pfarrerin Annegret Lingenberg, Karlsruhe
Den „Weg der Gerechtigkeit“, den Weg des Lichts und der Liebe – das, liebe Schwestern und Brüder, war es wohl, was der junge Mann suchte, als er sich vertrauensvoll an Jesus wandte. Und er musste lernen, dass es für diesen Weg kein Patentrezept gibt. Es ist gut, die Gebote zu achten und zu halten. Aber die Antwort auf seine Sehnsucht, für die Jesus „ihn lieb gewann“, ist mehr als das Einhalten und zufriedene Abhaken von Geboten. Das spürt der junge Mann; und das macht ihn so sympathisch.
Der Weg, den Jesus ihm zeigt, ist so etwas wie eine Ganzhingabe, ohne die Angst, etwas zu verlieren, sondern im vollen Vertrauen, durch die Hingabe alles zu gewinnen, alles, das Reich Gottes!
Einen solchen Weg haben Sie, liebe Schwestern eingeschlagen, als Sie sich als Diakonissen haben einsegnen lassen. Es ist der Weg auch anderer Ordensgemeinschaften. Es ist aber auch der Weg von Eheleuten, die sich mit der Heirat „auf Gedeih und Verderb“ aufeinander einlassen, liebend und vertrauend!
Es ist der Weg der Offenheit hin auf Zukunft, ohne die Vergangenheit festhalten zu wollen. Es ist das Loslassen von vermeintlichen Sicherheiten, die doch keine Sicherheiten sind. Es ist der Schritt in eine Freiheit in der alleinigen Bindung an Gott, ein Schritt in volles Risiko, ein Schritt, der nur gelingen kann im liebenden Blick auf Gott und auf unseren Mitmenschen. Freiheit in Verantwortung – so nennen wir das heute.
Die Gebote haben ihren biblischen Ort genau an der Stelle, wo das Gottesvolk befreit wird aus der ägyptischen Gefangenschaft und hineintritt in die Freiheit. Wir wissen alle: Der Weg in diese Freiheit ist zunächst ein Weg in die Wüste, also an den Ort vollen Risikos, an den Ort der absoluten Angewiesenheit auf Gott bzw. auf Gottes Knecht, Mose. Wir Christen würden sagen: Es ist der Weg in die Nachfolge Jesu, des Gottesknechtes, der für uns Gott repräsentiert. Die Wüste, nicht das luxuriöse Leben in der Fülle, ist der Ort der Gottesnähe, der Ort, an dem sich unser Glaube, unser Vertrauen zu Gott, bewähren muss.
So ist es sicher gar nicht so abwegig, auch im Rückblick auf das Corona-Jahr, im Blick auf all die Einschränkungen, die wir in Kauf nehmen mussten und wohl noch eine Weile weiter müssen, auf das zu hören, was Gott seinem Volk auf dem Weg in die Wüstenfreiheit mitgibt. Hören wir also auf die zehn Gebote:
1 Gott redete alle diese Worte:
2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. Weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:
5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,
6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
7 Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
8 Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst.
9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.
10 Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
11 Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
12 Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
13 Du sollst nicht töten.
14 Du sollst nicht ehebrechen.
15 Du sollst nicht stehlen.
16 Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
17 Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.
Liebe Gemeinde, ob Ihnen eben beim Hören aufgefallen ist, wie wenig Raum die kurzen Sätze, die wir als die „Zehn Gebote“ kennen, irgendwann einmal auswendig gelernt haben, in diesem Text tatsächlich einnehmen? Der Hauptteil des Textes, nahezu dreiviertel, betrifft unsere Beziehung zu dem Gott, der uns befreit hat! Die knappen Gebote ergeben sich gleichsam als Folge aus dieser Beziehung.
Am Anfang steht die Erinnerung an die Befreiungstat: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“. Ihr seid frei; ihr seid nicht mehr fremdbestimmt; ihr könnt jetzt euren eigenen Weg gehen, eurer Sehnsucht folgen.
Wir können diese geschichtliche Befreiungstat als Bild nehmen und unsere ganz persönlichen Erfahrungen an dieser Stelle einsetzen: Ich bin dein Gott, der dir einen Neuanfang geschenkt hat, als du glaubtest, am Ende zu sein. Ich bin dein Gott, der dir ganz unverhofft einen Weg gezeigt hat, als du nicht mehr wusstest, wie es weitergehen sollte. Ich bin dein Gott, der dir inneren Frieden geschenkt hat, auf wundersame Weise, mitten in den Problemen deines Lebens...
Dieser Gott, dem verdanke ich mein Leben, meine innere und äußere Freiheit. Und dieser Gott zeigt mir, wie ich das Geschenk der Freiheit leben kann – in meiner Familie, in meiner Gemeinde, in der Gemeinschaft, in der ich lebe, z.B. hier im Haus Bethlehem; ja, in dem Staat, für den auch ich Verantwortung trage.
Zwei Gedanken greife ich heraus:
– Dieser befreiende Gott bleibt dennoch ein für mich geheimnisvoller, verborgener Gott. Ich kann Ihn nicht fassen mit meinem Intellekt, meinem rationalen Denken, mit meinen Vorstellungen. Deshalb werde ich mich nicht festmachen an Bildern, die ich mir von Ihm mache! Es ging damals in der Antike sicher auch ganz konkret um Kultbilder, um „Goldene Kälber“, die das Gottesvolk nicht an die Stelle des lebendigen Gottes setzen sollte. Aber es geht heute für uns auch um unsere Gottesbilder, die wir uns machen. Wir stehen immer in der Gefahr, unsere Gottesbilder für wirklich und absolut zu halten. Und da gibt es ganz unterschiedliche Gottesbilder:
Viele Menschen schleppen aus ihrer Jugend das Bild des ständig aufpassenden und strengen und strafenden himmlischen Richters mit sich herum. Sie haben Mühe, einem solchen Gott zu vertrauen, sich in ihm zu bergen, mit der Last ihres Lebens zu ihm zu kommen. Ein solches Gottesbild kann quälend sein, am Glauben hindern, den Weg zum wahren Gott verstellen!
Andere bleiben – das ist das andere Extrem – an dem kindlichen Bild vom „lieben Gott“ hängen, dem man von Zeit zu Zeit seine Wunschlisten vorlegt, der dazu da ist, unsere Bitten zu erfüllen. An einen solchen Gott kann man dann beim besten Willen nicht mehr glauben, wenn er sich ganz anders verhält, als wir das für richtig gehalten hätten.
Vielleicht gibt es auch einen katholischen oder einen evangelischen Gott...
Vermutlich haben wir alle irgendwelche Vorstellungen, irgendwelche Bilder von Gott. Vielleicht geht es auch gar nicht anders. Aber das wird uns hier gesagt: Verwechselt eure Gottesbilder nicht mit Gott selbst! ER ist ganz anders. ER lässt sich mit unserem Verstand nicht begreifen, mit unseren Gefühlen nicht erfassen. Jesus hat uns Gott gezeigt als den, der uns liebt, der barmherzig ist! Mehr nicht. Und das ist unbegreiflich!
– Die Gebote wollen Hinweise sein für ein gelingendes Leben in der Gemeinschaft der Menschen. Und ganz wichtig und zentral dafür ist der Ruhetag, der Rhythmus von sechs Tagen Arbeit und einem Tag Ruhe. So selbstverständlich uns das scheinen mag, so wenig realisieren wir Menschen dies Gebot! Man stelle sich vor: Ein ganzer Tag in der Woche wirklich mal kein Druck, kein Aufarbeiten-Müssen von Liegengebliebenem, kein Autofahrstress im Ausflugsverkehr! Es soll Menschen geben, die sich am Montag bei der Arbeit erholen müssen vom Freizeitstress des Wochenendes...
Einfach mal Stille, Zeit zur Meditation, die Arbeit vergessen. Und das ohne moralisch erhobenem Zeigefinger: Du darfst dies nicht und du darfst jenes nicht, weil Sonntag ist. Sondern im dankbaren Wissen darum, dass wir nicht für den Sabbat da sind, sondern der Sabbat mit seinem Segen für uns! In aller Freiheit loslassen, was mich sonst gefangen nimmt, dankbar mich erinnern, von wo ich wirklich komme und wohin ich gehe, wes Geistes Kind ich bin. Und auch von anderen nicht erwarten, dass sie für mich springen, sondern auch anderen diese Ruhe gönnen. Wie anders sähe unsere Welt aus!
FÜRBITTEN
Ganz nah ist dein Wort, gütiger und liebender Gott.
Wenn wir dich suchen, bist du längst da.
Wenn wir in Angst sind, hast du Rat und Trost.
Ohne dein Wort wäre die Welt kalt und tot.
Wir bitten dich:
Sprich dein Wort zu den Mächtigen,
damit ihre Worte einen und verbinden,
damit ihre Taten helfen und schützen,
damit ihre Pläne dem Frieden und der Gerechtigkeit dienen.
Wir bitten dich:
Sprich dein Wort zu den Kranken,
zu den Infizierten,
zu denen, die pflegen und heilen.
Sprich, damit dein Wort Trost gibt und die Angst vertreibt,
damit die Einsamkeit weicht,
damit dein Wort Mitgefühl und Liebe weckt und die Kälte und Verachtung vertreibt.
Wir bitten dich:
Sprich dein Wort zu unseren jüdischen Geschwistern,
damit sie heute deine Weisungen mit Freude feiern.
Sprich dein Wort zu uns, damit wir es tun.
Sprich dein Wort zu denen, die zu uns gehören, damit sie leben.
Sprich dein Wort zu den Suchenden, damit sie dich finden.
Wir bitten dich!
Ganz nah ist dein Wort, gütiger und liebender Gott,
heute und morgen und alle Tage durch Jesus Christus.
Amen.