Evangelisches Diakonissenhaus Bethlehem

Jahresfest-Predigten

Predigt zum 185. Jahresfest am 22. Oktober 2022

Oberkirchenrat Wolfgang Schmidt, Karlsruhe

1. Mose 12, 1 – 4a


Liebe Festgemeinde,

es ist schön, heute Nachmittag bei Ihnen zu sein! Danke, dass Sie mich eingeladen haben! Es ist schön, miteinander zu feiern, und besonders nun diesen Festgottesdienst miteinander zu feiern!

Dabei versetzt uns ja der Bibeltext, den wir gerade gehört haben, zunächst einmal gar nicht in Feierlaune! „Geh!“ heißt das erste Wort! Da muss einer gehen! Da wird einer weggeschickt. Damit fängt alles an. „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde.“ Mit diesen Worten wird Abrahams Leben umgekrempelt, vollkommen umgekrempelt. Lass alles zurück und geh!

Mir fällt ein Foto ein, das ich vor Kurzem gesehen habe. Drei Frauen in unterschiedlichem Alter sitzen am Boden, eingehüllt in ihre schützenden Kopfbedeckungen. Es wurde uns in der Kirchenleitung aus der Arbeit der Diakonie berichtet. Aber was berichtet wurde, weiß ich nicht mehr. Ich war gefangen von den Augen der Frauen, in denen die Tränen standen, Gesichter der Verzweiflung über das Verlorene und ratlos vor der Zukunft. Drei Frauen auf der Flucht um ihr Leben. Das Bild diente der Illustrierung. Es gab keine Erklärung. Kamen sie aus Syrien? Oder aus dem Irak? Oder aus Afghanistan? Wäre das Kopftuch ein anderes, könnten Sie auch aus der Ukraine sein. Es ist nun nicht mehr nur in Afrika oder im Nahen Osten, dass Menschen Hals über Kopf ihre Heimat verlassen müssen und die Verwandtschaft hinter sich lassen, dass sie aufbrechen müssen in ein neues Leben, von dem sie nicht wissen, wo es liegt, wie es aussieht, was es für sie bereithält. Es geschieht fast vor unserer Haustür.

„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde.“ Ist es eine solche Geschichte, liebe Festgemeinde, die vielleicht auch im Hintergrund dieses Weges liegt, den Abraham mit seinen 75 Jahren noch antreten muss? Kann es sein, dass wir manchmal die Bibel ein wenig zu idealisiert und vielleicht auch ein bisschen weltfremd lesen? Wie sollte das denn eigentlich so vor sich gehen, dass Gott dem Abraham sagt „Geh aus deinem Vaterland! Verlasse deine Heimat!“? Hatte Abraham ein drittes Ohr, das auf Gott geeicht war? Hat Gott eine Stimme, die nur Menschen wie Abraham hören können? Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir in unserem Leben eben immer wieder auf Dinge gestoßen werden, von denen wir – vor allem wenn es am Ende gut ausgegangen ist – sagen würden: Da war Gott am Werk. Wer bricht denn schon gerne aus der Heimat auf, wenn ihn nicht irgendetwas dazu treibt? Die Liebe vielleicht, wenn sie mich gepackt hat und mich in eine andere Stadt oder ein anderes Land führt… Die Arbeit vielleicht, nach der ich so lange gesucht habe… Die Dürre vielleicht, die es mir nicht mehr erlaubt, meinen Kindern einen Brotfladen zu backen… Der Krieg, der mich um mein Leben fürchten lässt… 

Und natürlich gibt es auch innere Prozesse, die mich möglicherweise zu einem Aufbruch nötigen. Ein Beruf vielleicht, den ich einmal gewählt habe und der nun wie eine Last auf mir liegt: Wie kann ich diese Zwangsjacke hinter mir lassen? Oder das Elternhaus, das mich nicht loslassen will: Wie kann ich mich frei machen? Oder der Alkohol oder andere belastende Gewohnheiten: Wie kann ich mich ihrer entledigen?

Geh! Zieh aus! Verlasse die Geborgenheit, die nur noch Schein ist! Mach dich auf! Wäre das eine Art und Weise, wie wir uns Gottes Stimme vorstellen könnten? Der Aufruf zum Aufbruch? Jedenfalls werden wir es genauso sehen und verstehen wollen, wenn wir am Ende im Rückblick sagen können: Ja, so war es gut. So war es recht. Auch wenn es schwer war… Es hat dem Leben gedient, dass ich, dass wir uns auf den Weg gemacht haben. Und das, liebe Festgemeinde, ist ja am Ende auch das, was wir Segen nennen. Es ist gut gegangen!

Und vielleicht ist ja das gerade das Besondere an diesem Bibeltext. Abraham bricht auf, muss aufbrechen, muss alles hinter sich lassen und sich auf einen völlig ungewissen Weg machen. Aber er kann darauf vertrauen: Am Ende wird es gut ausgehen! Was auch immer geschieht, Gottes Zusage habe ich: „Ich will dich segnen!“ Ja, mein Wohlwollen gilt dir! Was du dir vornimmst wird am Ende gelingen! Und dann wirst du zurückschauen und sagen: Es hat sich gelohnt! Es war hart, manchmal sehr hart! Es war oft schwierig, manchmal schien es aussichtslos! Es hat Schweiß gekostet und auch Tränen. Ja, auch Tränen! Aber es hat sich gelohnt. Gott hält seine Hand über mich. Er schenkt mir eine Zukunft!

Dieses Gefühl, liebe Gemeinde, diese Gewissheit „Gott schenkt mir eine Zukunft“, die würde ich gerne mitnehmen und in mein Herz schließen, wenn ich nun an einen Aufbruch denke, der uns in diesen Tagen alle betrifft, die wir hier heute Gottesdienst feiern. „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde.“ Diesen Ruf Gottes hören wir als Kirche Jesu Christi in diesen Tagen besonders deutlich, als Kirche Jesu Christi in Deutschland, in Süddeutschland und nun auch im Besonderen als Evangelische Landeskirche in Baden. Wir sind im Aufbruch begriffen. Vieles Liebgewordene, vieles Vertraute und manche Gewohnheiten werden wir Schritt für Schritt hinter uns lassen müssen. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dass Menschen sich immer weniger gerne dauerhaft an eine Institution binden. Der Glaube wird individueller, prägt sich sehr persönlich aus, so dass viele in der Gemeinschaft der Kirche nicht mehr finden, was sie suchen. Andere sehen generell immer weniger einen Sinn in der Religion überhaupt und gehen auf Abstand. Dazu kommen Skandale, die wir vor Ort ja oft gar nicht zu verantworten haben, die aber den Ruf der Kirche und ihre Glaubwürdigkeit zusätzlich erschüttern. 

„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde.“ In den geschilderten Veränderungen unserer Gesellschaft und in den Herausforderungen, die damit für uns als evangelische Kirche in Baden verbunden sind, höre ich den Ruf Gottes zum Aufbruch, liebe Gemeinde. Wir verstehen so langsam, dass die Dinge nicht so bleiben können wie sie sind. Und wie in den ganz persönlichen Aufbruchsgeschichten und in den Geschichten von Flucht und Migration wird es auch für uns schwer werden. Ob Abraham wirklich so heroisch seine Sieben Sachen zusammenpackte, wie es die Bilder in der Kinderbibel zeigen? Oder ob er nicht doch auch mal eine bittere Träne vergossen hat über das, was er zurücklassen musste? Ich denke nur an die Kirchen, Gemeindehäuser und andere Gebäude, die wir in der Zukunft nicht mehr alle unterhalten können. Wie vieles ist uns so lieb geworden, dass wir unter Tränen davon Abschied nehmen werden. Aber der wunderbare Brunnen endloser Finanzströme versiegt so langsam. Es ist nicht die Kirchenleitung, die den Hahn abdreht. Der Wasserstand sinkt mit der Kirchensteuer, die abnimmt.

Ein echter Aufbruch, liebe Schwestern und Brüder, ist immer schmerzhaft. Wir sollten uns hüten, die Geschichte von Abraham zu verklären. Aber in allem Schmerz und Unmut darüber, dass wir uns auf den Weg machen müssen, sollten wir weit unsere Ohren auftun und gut zuhören, was Gott für solche Aufbrüche verspricht und zusagt: „Ich will dich segnen!“ Dieses Wort lasse ich in mein Herz fallen! Gott schenkt uns eine Zukunft! Von dieser Gewissheit lasse ich mich tragen. Er führt uns in ein Land, das er uns zeigen wird. Unser Aufbruch ist zwar ungewiss, aber es wird kein Irrweg. Abraham hatte keine fertigen Pläne, keine Vision, die ein klares Ziel zeigte. Er vertraute, hoffte, glaubte. Und wie uns Gott also in den Umständen unserer gesellschaftlichen Veränderungen seinen Ruf schickt, aufzubrechen, so wird er uns am Ende auch zu dem Ziel führen, das er uns bestimmt hat.

Und dann ist da noch etwas Zweites, was bisher noch gar nicht zur Sprache kam: „Ich will dich segnen!“ ist das Eine. Das Andere ist die Fortsetzung: „Und du sollst ein Segen sein.“ Abrahams Zukunft ist ausgerichtet auf alle Welt: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ Gottes Wohlwollen darf allen gelten unter diesem Himmelszelt! Die ganze Welt ist hineingenommen in diese Segensgeschichte Gottes mit Abraham. Wenn es ihm gut geht, soll es allen gut gehen. Die Zusage Gottes endet nicht in der persönlichen Familiengeschichte des Patriarchen. Vielmehr ist es eine Segensgeschichte, die sich mit ihm und durch ihn und in der Folge auch durch uns für alle Welt öffnet.

Unter dieser Verheißung dürfen wir als Kirche den Aufbruch wagen! Segensreich für alle! Das ist die Perspektive. Vielleicht werden wir nicht mehr so viele Gemeindehäuser haben und so viele Kirchen, aber wie das Salz der Erde sich verausgabt zum Wohle des Ganzen und das Licht der Welt an keinem Kirchturm Halt macht, so können wir alle zum Segen werden, im Kleinen wie im Großen: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“

Abraham ist 75, liebe Festgemeinde! Es ist nie zu spät, etwas Neues zu beginnen. Es mag hart sein, aber es ist voller Verheißung: Ich darf auf Gottes Segen dabei trauen und so selbst segensreich wirken in dieser Welt! Amen.

Coypright Diakonissenhauses Bethlehem, Karlsruhe
Evangelisches Diakonissenhaus Bethlehem, Karlsruhe-Nordweststadt
[ Sitemap | Suchen | Impressum | Datenschutz ]
[ Aktualisiert am 25.04.2024 | powered by ConPresso 4 ]